Otto von Bismarck war in seiner Rolle als Reichskanzler von 1871 bis 1890 einer der maßgeblichen Politiker bei der Gründung des deutschen Kaiserreiches und der Etablierung eines preußischen Herrschaftsanspruchs über Deutschland. Bis heute gilt er als einer der prägenden Figuren der deutschen Geschichte, um die sich schon zu seinen Lebzeiten ein regelrechter Massenkult gebildet hatte.
Bismarck diente unter drei deutschen Kaisern, allerdings bestimmte er die deutsche Politik nach Innen und Außen teilweise sehr viel entschiedener als die preußischen Monarchen selbst. Erst Kaiser Wilhelm II., getrieben von seinen imperialistischen und teilweise völkischen Ambitionen, drängte den politischen Einfluss seines Reichskanzlers zurück und entließ ihn schließlich 1890 aus seinem Amt.
Die Absicherung des Herrschaftsanspruchs der alten preußischen Eliten machte Bismarck zu einem erbitterten Kämpfer für das, was er als "Staatsräson" betrachtete. So verschärfte er die gesellschaftlichen Spaltungen im Kaiserreich mit seinem Kulturkampf gegen die katholische Kirche und mit seinem vehementen Eintreten gegen die Sozialdemokratie und allem links davon, was schließlich in den berüchtigten "Sozialistengesetzen" von 1878 mündete. Vor allem für seine politische Praxis von "Zuckerbrot und Peitsche" war Bismarck bekannt. So wurden parallel zur polizeilichen Verfolgung der Sozialistinnen und Sozialisten die ersten Sozialgesetze Deutschlands erlassen, - allerdings nicht aus etwaigen sozial-humanistischen Erwägungen heraus, sondern um der aufstrebenden Sozialdemokratie mit ihren viel weitergehenden Forderungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Nachhinein gilt Bismarck als Paradebeispiel eines "Realpolitikers", der immer zuerst den Erhalt und die Ausweitung monarchischer Herrschaft im Sinn hatte.
Doch liegt bis heute weit weniger Augenmerk auf der Tatsache, dass Bismarck in der Zeit des Imperialismus und Kolonialismus welche die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägten, auch derjenige war, der mit der Errichtung "Deutscher Schutzgebiete" in Afrika den Grundstein für Deutschlands Rolle als Kolonialmacht legte. Dabei handelte Bismarck nach Meinung zahlreicher Historikerinnen und Historiker wohl mehr aus Erwägungen innenpolitischen Machterhalts. Zunächst nämlich äußerte er seine deutliche Ablehnung gegenüber deutschen Kolonien, deren Wirtschaftlichkeit er als Illusion bezeichnete. Kolonien seien, so Bismarck, am Ende "bloß für Versorgungsposten gut". Doch bald stellte er seine Kolonialskepsis gegenüber deutschen Handelsinteressen, namentlich aus den großen deutschen Hafen- und Handelsstädten Hamburg und Bremen ein. Auch der Druck politischer 'pressure groups', wie dem "Deutschen Kolonialverein" spielte bei Bismarcks Wandel sicherlich eine Rolle. Nicht zuletzt hoffte Bismarck, mit dem "Erwerb" deutscher Kolonien von innenpolitischen Problemen ablenken zu können. Heute wird eine solche Funktion des Kolonialismus, in seiner rassistischen Dimension, von Historikerinnen und Historikern auch als 'Sozialimperialismus' bezeichnet.
Zunächst glaubte Bismarck noch, die Ausbeutung von Teilen Afrikas deutschen Privatunternehmern überlassen zu können, ohne dass sich das Kaiserreich und sein Militär allzu sehr engagieren musste. Doch schließlich hatte er sich spätestens 1884 dem politischen Leitsatz "Die Flagge folgt dem Handel" verschrieben. Nachdem am 12. Juli 1884 die Hamburger Firmen C. Woermann und Jantzen & Thormälen von der lokalen Bevölkerung der Duala einen Küstenstreifen im heutigen Kamerun gekauft hatten, wurde dieser Erwerb zwei Tage darauf durch den neu ernannten Reichskommissar Gustav Nachtigal bestätigt und unter "Schutz" des Deutschen Reiches gestellt. Kurz darauf ließ Nachtigal die deutsche Flagge auch in Südwestafrika (dem heutigen Namibia) hissen und stellte so die Besitzungen des Bremer Kaufmannes Adolf Lüderitz unter deutschen "Schutz". In den Jahren 1884 und 1885 erklärte das Deutsche Reich Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Neuguinea zu eigenen Schutzgebieten. Entgegen Bismarcks ursprünglichen Erwartungen sah sich das Deutsche Reich jedoch gezwungen, mehr und mehr in seine Kolonien zu investieren und verstärkt auch militärisch zu intervenieren.
Gleichzeitig bemühte sich Bismarck um eine Vermittlung unter den europäischen Kolonialmächten, um die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents sicherzustellen. Bei der von ihm einberufenen Berliner Konferenz (der sogenannten Kongokonferenz, 1884/85) wurde der afrikanische Kontinent faktisch unter den damaligen europäischen Mächten mit kolonialen Ambitionen aufgeteilt - mit teils dramatischen nachteiligen Folgen für die betroffenen Länder bis heute. Das Wohlergehen und die Interessen der Bevölkerung in den kolonialisierten Gebieten spielten bei der von Bismarck inszenierten Aufteilung Afrikas keine Rolle.
Am Ende muss Bismarck gar nicht als glühender Vertreter einer rassistischen Kolonialideologie betrachtet werden, um ihn als mehr als problematischen Wegbereiter des deutschen Kolonialismus hervorzuheben. Mit seiner Politik der Verleihung eines "Schutzmacht"-Status für die späteren deutschen Kolonien war der Reichskanzler an vorderster Stelle verantwortlich für das, was in den von Deutschen beanspruchten Gebieten bald folgen sollte: Entmachtung, Entrechtung, Ausbeutung und letztlich sogar Völkermord an der indigenen Bevölkerung.
Die wirtschaftliche globale Ungleichheit und tief verankerte Traumata als Folgen einer rassistischen Gewaltherrschaft unter deutscher Flagge wirken in den Gesellschaften der ehemaligen deutschen Kolonien bis heute nach.
Text: Dr. Hanno Balz, Historiker, in Abstimmung mit der Landeszentrale für politische Bildung und dem Senator für Kultur